Jeden Monat veröffentlichen wir ein Gedicht des Monats. Wir wünschen Ihnen dabei viel Freude.

Monatliche Lyriktipps 2021-2022

Erich Kästner - Der Juni

Die Zeit geht mit der Zeit: Sie fliegt.
Kaum schrieb man sechs Gedichte,
ist schon ein halbes Jahr herum
und fühlt sich als Geschichte.

Die Kirschen werden reif und rot,
die süßen wie die sauern.
Auf zartes Laub fällt Staub, fällt Staub,
so sehr wir es bedauern.

Aus Gras wird Heu. Aus Obst Kompott.
Aus Herrlichkeit wird Nahrung.
Aus manchem, was das Herz erfuhr,
wird, bestenfalls, Erfahrung.

Es wird und war. Es war und wird.
Aus Kälbern werden Rinder
und, weil’s zur Jahreszeit gehört,
aus Küssen kleine Kinder.

Die Vögel füttern ihre Brut
und singen nur noch selten.
So ist’s bestellt in unsrer Welt,
der besten aller Welten.

Spät tritt der Abend in den Park,
mit Sternen auf der Weste.
Glühwürmchen ziehn mit Lampions
zu einem Gartenfeste.

Dort wird getrunken und gelacht.
In vorgerückter Stunde
tanzt dann der Abend mit der Nacht
die kurze Ehrenrunde.

Am letzten Tische streiten sich
ein Heide und ein Frommer,
ob’s Wunder oder keine gibt.
Und nächstens wird es Sommer.

Erich Kästner (1899-1974)

Foto: Pixabay

Wilhelm Busch - Der Mai

Sei mir gegrüßt, du lieber Mai,
mit Laub und Blüten mancherlei!
Seid mir gegrüßt, ihr lieben Bienen,
vom Morgensonnenstrahl beschienen!
Wie fliegt ihr munter ein und aus in Imker Dralles Bienenhaus
und seid zu dieser Morgenzeit so früh schon voller Tätigkeit.
Für Diebe ist hier nichts zu machen,
denn vor dem Tore stehn die Wachen.
Und all´ die wacker´n Handwerksleute die hauen,
messen stillvergnügt,
bis daß die Seite sich zur Seite schön sechsgeeckt zusammenfügt.
Schau! Bienenlieschen in der Frühe bringt Staub und Kehricht vor die Tür;
Ja! Reinlichkeit macht viele Mühe,
doch später macht sie auch Pläsier.

Wilhelm Busch (1832-1908)

Heinrich Seidel - April

April! April!
Der weiß nicht, was er will.
Bald lacht der Himmel klar und rein,
Bald schaun die Wolken düster drein,
Bald Regen und bald Sonnenschein!
Was sind mir das für Sachen,
Mit Weinen und mit Lachen
Ein solch Gesaus zu machen!
April! April!
Der weiß nicht, was er will.

O weh! O weh!
Nun kommt er gar mit Schnee!
Und schneit mir in den Blütenbaum,
In all den Frühlingswiegentraum!
Ganz greulich ist’s, man glaubt es kaum:
Heut Frost und gestern Hitze,
Heut Reif und morgen Blitze;
Das sind so seine Witze.
O weh! O weh!
Nun kommt er gar mit Schnee!

Hurra! Hurra!
Der Frühling ist doch da!
Und kriegt der raue Wintersmann
Auch seinen Freund, den Nordwind, an
Und wehrt er sich, so gut er kann,
Es soll ihm nicht gelingen;
Denn alle Knospen springen,
Und alle Vöglein singen.
Hurra! Hurra!
Der Frühling ist doch da!

Heinrich Seidel (1842-1906)

Ferdinand Ernst Albert Avenarius - Im März

Graublaue Nebel schleichen
Durch winterlich Gefild,
Graublaue Berge dämmern
Gleich blassem Traumgebild.

Der Regen rieselt leise
Im blätterlosen Wald,
Vom kühlen Wind das Flüstern
Aus dürren Zweigen hallt.

Dort droben zwitschert ein Vogel
Schüchtern sein kleines Lied –
Weiss nicht, ob Herbst, ob Frühling
Die stille Welt durchzieht.

Ferdinand Ernst Albert Avenarius, 1856-1923, deutscher Dichter

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben - WinternachtWie ist so herrlich die Winternacht,
Es glänzt der Mond in voller Pracht
Mit den silbernen Sternen am Himmelszelt.
Es zieht der Frost durch Wald und Feld

Und überspinnet jedes Reis
Und alle Halme silberweiß.
Er hauchet über dem See und im Nu,
Noch eh` wir`s denken, friert er zu.

So hat der Winter auch unser gedacht
Und über Nacht uns Freude gebracht.
Nun wollen wir auch dem Winter nicht grollen
Und ihm auch Lieder des Dankens zollen.

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874)

Sylvia Seidl - Ich habe ein Geschenk für Dich

Du kannst es nicht kaufen
und doch hat es Wert
und mit ein paar Worten ist’s rasch erklärt
was ich versuche dir zu geben
sollt’ jeder haben in seinem Leben

Ich schenke dir Liebe das ganze Jahr
Ich höre dir zu – bin für dich da
Ich schaue dich an, bin mit dir eins
und wenn du lächelst ist’s als wäre es mein’s

Ich weine mit dir und gebe dir Hoffnung
und wenn du mich brauchst bin ich für dich da
Tag ein Tag aus – das ganze Jahr

dass ist mein Geschenk an Dich

Sylvia Seidl

Theodor Fontane - Spätherbst

Schon mischt sich Rot in der Blätter Grün,
Reseden und Astern im Verblühn,
Die Trauben geschnitten, der Hafer gemäht,
Der Herbst ist da, das Jahr wird spät.

Und doch (ob Herbst auch) die Sonne glüht –
Weg drum mit der Schwermut aus deinem Gemüt!
Banne die Sorge, genieße, was frommt,
Eh Stille, Schnee und Winter kommt.

Theodor Fontane

Joachim Ringelnatz - Wenn dir Melodien

Wenn dir Melodien
liebe Stunden wiederbringen,
laß mit freien Schwingen
deine Sehnsucht ziehn.

Nimm das Glück wie einst,
das dir Träume gütig spinnen,
laß die Tränen rinnen,
wenn du weinst.

Birg nicht Lust noch Gram,
nur der Reine fühlt aufs Neue.
Steht doch Herzenstreue
über aller Scham.

Joachim Ringelnatz

Hugo von Hofmannsthal - Was ist die Welt?

Was ist die Welt? Ein ewiges Gedicht,
Daraus der Geist der Gottheit strahlt und glüht,
Daraus der Wein der Weisheit schäumt und sprüht,
Daraus der Laut der Liebe zu uns spricht

Und jedes Menschen wechselndes Gemüt,
Ein Strahl ists, der aus dieser Sonne bricht,
Ein Vers, der sich an tausend andre flicht,
Der unbemerkt verhallt, verlischt, verblüht.

Und doch auch eine Welt für sich allein,
Voll süß-geheimer, nie vernommner Töne,
Begabt mit eigner, unentweihter Schöne,

Und keines andern Nachhall, Widerschein.
Und wenn du gar zu lesen drin verstündest,
Ein Buch, das du im Leben nicht ergründest.

Hugo von Hofmannsthal

Eduard Mörike - Er ist's

Frühling lässt sein blaues Band
wieder flattern durch die Lüfte;
süße wohlbekannte Düfte
streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
wollen balde kommen.
Horch: von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist ’s!
Dich hab ich vernommen!

Eduard Mörike

Hermann Hesse - Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse

Der PantherSein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Rainer Maria Rilke, 6.11.1902, Paris

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.

Hilde Domin